Zwischen Nähe und Schmerz: Mein Kind, Bindungstrauma und der Abschied von Weggefährt*innen

Für mich gibt es wohl kaum ein größeres Geschenk – und kaum eine tiefere Herausforderung – als einem Kind mit Bindungserfahrungen jenseits sicherer Geborgenheit liebevoll zur Seite zu stehen. Mein Sohn kam als Pflegekind zu mir – mit einem Herzen voller offener Fragen, mit Erfahrungen, die für mich nicht alle greifbar oder sichtbar sind, aber spürbar. Seine Geschichte ist durchzogen von Bindungen, die nicht gehalten haben – aus Gründen, die ich nicht immer kenne, aber die Teil seiner inneren Landschaft sind. Und doch: so offen, so kontaktfreudig, so lebendig in seiner Sehnsucht nach Verbindung.

 

Bindung: Die zarte Wurzel des Vertrauens

Bindung ist mehr als ein Wort – sie ist das Fundament unseres Menschseins. Sie ist das stille Versprechen, gesehen, gehalten und verstanden zu werden. Sie entsteht nicht durch Worte allein, sondern durch die fein gesponnenen Fäden von Verlässlichkeit, Nähe, Trost und Resonanz. Ich weiß nicht, wie mein Sohn die frühen Brüche erlebt hat – ich kann und will sie nicht bewerten. Es steht mir nicht zu. Was ich sehe, ist ein Kind mit einer außergewöhnlichen Feinfühligkeit.

Mein Sohn hat ein bemerkenswert gutes Gespür für Menschen, die ihm ehrlich und wohlwollend begegnen. Er erkennt oft intuitiv, wer es wirklich gut mit ihm meint – und wer vielleicht ein anderes Gesicht zeigt. Diese Fähigkeit berührt mich tief, weil ich spüre, dass sie aus einem inneren Radar gewachsen ist, das auf vielen Erfahrungen beruht – auf genauem Hinschauen, auf Schutzmechanismen, die er früh entwickeln musste.

Gleichzeitig zeigt er Verhalten, das viele als "rebellisch" bezeichnen würden – laut, widersetzlich, trotzig. Für mich ist es kein Zeichen von "schlechtem Benehmen", sondern ein Ausdruck seiner (inneren) Not. Ein Versuch, Kontrolle zu behalten, dort wo er einst keine hatte. Ein Schrei nach Verlässlichkeit in einer Welt, die oft unberechenbar war. Seine Wut, sein Widerstand – sie sind kein Widerspruch zu seiner Sehnsucht nach Bindung. Sie sind Teil davon. Ausdruck seiner Angst, wieder verletzt zu werden. Ausdruck seiner Hoffnung, dass er diesmal nicht verlassen wird – selbst wenn er alle "Grenzen testet". Dieses Verhalten fordert mich heraus. Und ja, es macht mich müde. Es bringt mich an meine eigenen Grenzen – und manchmal darüber hinaus. Doch ich versuche, immer wieder dahinter zu blicken: auf das verletzte Kind, das sich nicht gegen mich stellt, sondern sich in meiner Gegenwart endlich sicher genug fühlt, um zu zeigen, wie groß seine Angst ist.

 

Wächterin der Beziehungen

Ich beobachte genau, mit wem mein Sohn sich wohlfühlt. Ich merke, mit wem er sich entspannt, wer ihn sieht, ohne gleich zu werten und diesen Bewertungen Ausdruck zu verleihen. Und ich merke, bei wem er sich zurückzieht, auf Abstand geht – oder sich überangepasst zeigt. Vielleicht liegt es daran, dass ich selbst in mir spüre, wie fragil Beziehungen sein können. Ich bin zur Wächterin geworden. Nicht aus Misstrauen – sondern aus Verantwortung. Ich kann nicht alle Erfahrungen von ihm fernhalten, doch ich möchte ihm Räume ermöglichen, in denen er mehr heilen als verlieren kann.

 

Mein eigenes Bindungstrauma

Ich begleite mein Kind mit einem offenen Herzen – doch auch ich trage mein eigenes Bindungserleben mit mir. Mein Vater starb früh – ein tiefer Einschnitt in meine Kindheit. Ein plötzlicher Verlust, ein Beziehungsabbruch, der nie erklärt, nie verstanden werden konnte. Ich habe viel später erst erkannt, wie sehr dieser frühe Tod mich geprägt hat. Wie er mein Vertrauen in das Bleiben, in das Verlässlichsein erschüttert hat. Und wie sehr ich mich nach Verbindung sehne – und gleichzeitig fürchte, sie zu verlieren. Vielleicht ist es deshalb so schwer für mich, wenn mein Sohn dieselben Fragen stellt, die mein inneres Kind nie beantwortet bekam.

 

Wenn Verbindungen zerbrechen – und ich keine Antworten habe

Die schmerzhaftesten Momente sind oft nicht die, in denen wir gemeinsam traurig sind, sondern jene, in denen ich selbst nicht weiß, was ich meinem Sohn antworten soll. Wenn er fragt: "Wo ist … geblieben?", "Warum sehen wir sie nicht mehr?", "Kommt er wieder?" – und ich keine klaren Antworten habe. Manche Menschen verschwinden aus unserem Leben, ohne dass es einen Streit, einen erklärbaren Moment, eine bewusste Entscheidung gegeben hätte. Manchmal versanden Beziehungen einfach. Manchmal verändert sich etwas – leise, unmerklich, bis es zu spät ist, es nochmal anzusprechen.

Dann stehe ich da – als Erwachsene, als Mutter – und ringe selbst mit Erklärungen. Ich fühle mich hilflos. Sprachlos. In mir tobt ein innerer Konflikt: Ich möchte meinem Sohn Halt geben, Orientierung. Und gleichzeitig weiß ich es selbst nicht. Nicht genau. Nicht nachvollziehbar.

Ein besonders schmerzhaftes Thema für mich sind jene Menschen, die um unsere besondere Situation wissen – und uns dennoch, teils ohne ein Wort, ohne Erklärung, verlassen. Menschen, von denen ich dachte, sie hätten verstanden, wie viel ein stabiler Kontakt für ein Kind bedeutet, das Bindung nicht selbstverständlich erlebt hat. Wenn selbst solche Verbindungen abbrechen – leise, unbegründet, kommentarlos – dann bricht in mir mehr als nur Enttäuschung auf. Es trifft mich an einem wunden Punkt: meinem tiefen Wunsch, dass da Menschen sind, die bleiben, gerade weil sie wissen, wie viel das bedeutet.

Ich merke: Ich habe (offenbar) ein Thema mit genau diesen Konstellationen. Ich wünsche mir von den Menschen um uns herum mehr Bewusstheit und Verantwortung in Bezug darauf, welche Bindungen sie verlässlich eingehen wollen – und welche eben nicht. Ich wünsche mir mehr Klarheit und Mut zur Ehrlichkeit – auch und gerade dort, wo Rückzug nötig erscheint. Kein Kontakt ist immer noch besser als ein Kontakt, der nur vorgibt, tragfähig zu sein.

Ich spüre dann ganz deutlich: Ich habe gesät, was ich nun ernte. Nicht im Sinne von Schuld – sondern im Sinne von Ursache und Wirkung. Von Resonanz. Von dem, was ich – bewusst oder unbewusst – in Beziehungen hineingegeben habe. Und was daraus entstanden ist. Auch wenn ich es nicht immer kontrollieren oder vorhersehen konnte. Diese Erkenntnis ist nicht anklagend. Sie ist eher still. Und schmerzhaft. Weil sie mir zeigt, dass ich Teil dieser Dynamik bin – als fühlender, handelnder Mensch. Nicht getrennt davon. Nicht außerhalb. Diese Ratlosigkeit ist eine besondere Form von Schmerz. Weil sie mir den Spiegel vorhält: Ich kann nicht alles erklären. Ich kann nicht alles beschützen. Und manchmal kann ich nicht einmal sagen, ob etwas vorübergeht – oder für immer vorbei ist.

 

Wenn ich selbst Bindungen löse

Und dann gibt es die anderen Bindungsabbrüche. Die, die ich bewusst herbeiführe. Die, bei denen ich spüre: Diese Verbindung tut mir nicht mehr gut. Oder sie tut uns – meinem Kind und mir – nicht gut. Das sind Entscheidungen, die ich nicht leichtfertig treffe. Oft gehe ich lange damit schwanger, wäge ab, zweifle, hadere. Und wenn ich dann gehe – oder loslasse – dann bleibt in mir nicht nur Klarheit, sondern auch eine tiefe, manchmal lähmende Schwere.

Denn auch wenn es vermeintlich richtig ist, bedeutet es nicht, dass es leicht ist. Ich weiß, dass ich in dem Moment nicht nur für mich entscheide – sondern auch für meinen Sohn. Und das macht es zu einer besonderen Last. Ich trage dann nicht nur meine eigenen Gefühle – sondern auch seine. Seine Fragen. Seine Sehnsucht. Seine Hoffnung. Und ich frage mich: Darf ich diese Entscheidung für uns beide treffen? Darf ich ein Band durchtrennen, das für ihn (vielleicht) noch bedeutungsvoll ist?

 

Gewaltfreie Kommunikation: Ein Anker im Chaos

In diesen Momenten ist die Gewaltfreie Kommunikation mein Rettungsanker. Sie lädt mich ein, in Verbindung zu bleiben – mit mir selbst und mit meinem Kind. Sie erinnert mich daran, dass es nicht darum geht, alles zu erklären – sondern ehrlich zu sein. Präsenz zu zeigen. Und Räume für Gefühle zu schaffen. Wenn mein Sohn fragt, versuche ich innezuhalten, zu fühlen, und dann vielleicht zu sagen:

 

"Ich merke, dass du traurig bist. Dass du jemanden vermisst. Ich bin auch traurig. Ich weiß nicht genau, warum sich das so verändert hat. Manchmal verstehen Erwachsene das selbst nicht so ganz. Aber ich bin hier. Und du darfst alle deine Gefühle haben."

 

Oder – wenn ich die Entscheidung getroffen habe:

"Ich habe gespürt, dass mir die Verbindung nicht mehr gutgetan hat. Und ich habe entschieden, dass wir Abstand brauchen. Du darfst die Person trotzdem mögen und vermissen. Ich bin da, wenn du darüber reden willst."

 

Nicht perfekt. Aber ehrlich. Menschlich. Auf Augenhöhe.

 

Heilung durch Beziehung

Was ich meinem Sohn schenken möchte – und auch mir selbst – ist das, was vielleicht am meisten heilt: Verlässliche Beziehung. Nicht perfekte. Aber beständige. Ich will da sein. Mich zeigen. Auch mit meinen Grenzen. Auch mit meinen Fehlern. Denn Bindung entsteht nicht durch "Immer-verfügbar-sein". Sondern durch "Ich-bin-da-und-ich-bleibe" – selbst wenn es wackelt.

 

Und wenn jemand geht?

Dann dürfen wir traurig sein. Dann dürfen wir erinnern. Und vielleicht – eines Tages – auch vergeben. Uns selbst und anderen. Denn manchmal sind Bindungsabbrüche nicht "gegen" uns gerichtet. Manchmal sind sie Ausdruck davon, dass jeder Mensch seinen Weg gehen darf und muss und soll(te). Und dass wir, so schmerzhaft es ist, nicht alles kontrollieren können.

 

Was bleibt

Was bleibt, ist mein Blick auf meinen Sohn. Ein Blick voller Achtung für seinen Mut, für seine Offenheit trotz allem. Und für seine Fragen, die uns beide auf dem Weg halten. Was bleibt, ist das Staunen darüber, dass Bindung nicht durch das Vermeiden von Schmerz wächst – sondern durch das gemeinsame Aushalten und Verarbeiten von Schmerz. Und was ich (auch) säe – ist immer wieder Nähe, Mitgefühl und Wahrhaftigkeit. In der Hoffnung, dass er eines Tages sagen kann:

 

"Auch wenn viele gegangen sind – ich weiß, was es heißt, gehalten zu werden."

 

 

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