Gewaltfrei – auch wenn’s weh tut?

Warum Gewalt in der Haltung liegt und Nähe manchmal ungewohnt kraftvoll sein darf

Gewaltfreie Kommunikation – das klingt oft nach weichen Worten, sanftem Tonfall, nach Harmonie und Höflichkeit. Und doch ist sie etwas ganz anderes: nicht nett, sondern authentisch, nicht angepasst, sondern verbindend. Marshall Rosenberg hat Gewaltfreiheit nicht als eine Sammlung schöner Worte verstanden. Sondern als eine innere Haltung, aus der heraus wir miteinander in Verbindung treten – selbst (und gerade) dann, wenn es schwierig wird. In diesem Beitrag lade ich Dich ein, neu über Gewalt nachzudenken. Und darüber, was es heißt, jemandem „grob“ zu begegnen – und trotzdem (ganz) in Verbindung zu bleiben.

 

Gewalt beginnt nicht erst mit der Ohrfeige

Marshall Rosenberg definierte Gewalt viel weiter, als wir es aus dem Alltag kennen. Für ihn beginnt Gewalt nicht erst bei körperlicher Aggression – sondern bereits dort, wo wir einander nicht mehr sehen. Wenn wir bewerten, recht haben wollen, analysieren, moralisieren. Wenn wir Aussagen machen wie:

  • „Du übertreibst.“
  • „Stell dich nicht so an.“
  • „So schlimm war das doch gar nicht.“

All das sind Äußerungen, die trennen statt verbinden. Sie berühren nicht das, was im Gegenüber lebendig ist. Und obwohl sie oft mit „guten Absichten“ gesagt werden, wirken sie verletzend. Gewalt kann still, höflich und wohlmeinend daherkommen – und dennoch trennen.

 

Und umgekehrt? Kann ich auch körperlich grob sein – und trotzdem gewaltfrei handeln?

Ja – so meine persönliche Meinung - wenn ich aus einer Haltung komme, die Verbindung sucht, nicht Kontrolle. Wenn ich präsent bin, mitfühlend, verantwortungsvoll. Wenn ich im Anderen nicht ein Objekt, sondern ein fühlendes Gegenüber sehe.

 

Beispiel: Vater greift zu – mit offenem Herzen

Ein Kind läuft plötzlich auf die Straße. Der Vater ruft nicht nur, sondern greift zu – fest, schnell, energisch. Vielleicht sogar erschrocken. Das Kind schreit, weint.

 

War das Gewalt?

Wenn wir allein auf die Handlung schauen: vielleicht. Aber wenn wir auf die Haltung schauen: Der Vater handelt aus Fürsorge. Aus Angst um das Leben seines Kindes. Und wenn er danach innehält, sich runterreguliert, sein Kind anschaut und sagt: „Ich hatte solche Angst um dich – ich bin froh, dass dir nichts passiert ist.“ … dann wird aus der vermeintlich gewalttätigen Handlung ein Bindungsangebot. Und das Kind kann spüren: Ich bin gemeint. Ich bin wichtig. Ich werde gehalten.

 

Macht mit – statt Macht über

In der Gewaltfreien Kommunikation unterscheiden wir zwischen zwei Arten von Macht:

  • Macht-über bedeutet: Ich nutze meine Handlungskraft, um dich zu beeinflussen, zu kontrollieren oder zu unterwerfen. Ich entscheide, was richtig ist – für dich.
  • Macht-mit heißt: Ich bin handlungsfähig mit dir, in Beziehung, in Resonanz. Ich nutze meine Kraft, um Verbindung zu ermöglichen – selbst wenn das gerade körperlich deutlich, laut oder direkt geschieht.

Der Unterschied liegt nicht in der Form – sondern in der Intention.

 

Therapie und GFK – wenn Nähe sich ungewohnt anfühlt

Im therapeutischen Kontext ist achtsame Sprache und ein feinfühliger Umgang mit Nähe zentral – gerade auch bei Menschen mit Traumaerfahrungen. Hier ist körperliche Berührung immer freiwillig, achtsam angekündigt und nur im Rahmen klarer Vereinbarungen erlaubt. Aber auch ohne Berührung kann Nähe intensiv sein.

 

Ein Beispiel:

Eine Klientin beginnt, sich im Gespräch zu dissoziieren – die Stimme wird leiser, der Blick leer, der Körper entfernt sich innerlich. Die Therapeutin bleibt präsent, geht leicht mit der Stimme nach oben, sagt ruhig, aber deutlich: „Ich bin da. Magst du dich umschauen? Ich begleite dich.“

Vielleicht kommt ein sanftes Klopfen auf den Tisch oder ein wiederholter, klarer Satz: „Du musst das nicht alleine halten.“

 

Was hier vermeintlich als Macht-über wirken kann, ist eine liebevolle Einladung zur Rückverbindung – getragen von Präsenz, Achtsamkeit und dem Wunsch, mitzugehen, nicht zu führen. Die Therapeutin handelt aus einem echten Bedürfnis nach Kontakt, Fürsorge und Sicherheit – und mit der Absicht, die Autonomie der Klientin zu respektieren.

 

Beziehungsdynamik: Nähe, Rückzug und der Mut, zu bleiben

Auch in Paarbeziehungen können Situationen entstehen, in denen eine Handlung nach außen hin als „übergriffig“ erscheint – innerlich aber ein Versuch ist, die Verbindung zu halten.

 

Ein Beispiel:

Eine Partnerin zieht sich zurück. Sie geht wortlos aus dem Raum, möchte „Ruhe“. Der Partner spürt: Hier geht es nicht um eine Pause, sondern um einen inneren Rückzug in Schmerz. Er folgt ihr in den Flur, stellt sich vor sie, schaut sie direkt an – nicht laut, aber bestimmt – und sagt: „Ich gehe jetzt nicht weg. Ich will dich nicht verlieren in dem, was gerade passiert.“

Sie weicht aus, möchte sich abwenden – er bleibt stehen, vielleicht legt er sanft eine Hand auf ihre Schulter, wenn sie es zulässt. Er bleibt. Er trägt mit.

 

Diese Handlung kann äußerlich als „zu viel“ erscheinen – aber in der Haltung liegt das Geschenk: Er spricht aus einem echten Gefühl von Ohnmacht, aus einem Bedürfnis nach Verbindung, Nähe und Klarheit. Er drängt sich nicht auf – er macht ein Bindungsangebot. Ein mutiges Angebot, das sagt: „Ich halte aus, dass du gerade nicht offen bist. Aber ich bleibe da.“

 

Was, wenn wir uns etwas vormachen?

Die Idee, auch in körperlich deutlichen Momenten in der Haltung der Gewaltfreiheit zu bleiben, kann leicht missverstanden oder sogar missbraucht werden – vor allem von uns selbst.bWas, wenn wir uns unsere eigene Übergriffigkeit nur schönreden? Wenn wir unsere Impulse im Nachhinein mit edlen Motiven bemänteln, um Schuldgefühle zu vermeiden? Wenn wir sagen:

  • „Ich wollte doch nur helfen.“
  • „Das war aus Liebe.“
  • „Ich musste es tun – zu deinem Besten.“

Solche Sätze können Verbindung signalisieren – oder Verantwortung verschleiern. Der schmale Grat zwischen einem aufrichtigen Bemühen um Bindungsgestaltung und einer unreflektierten Grenzüberschreitung ist oft schwer zu erkennen. Besonders dann, wenn alte eigene Muster (z. B. Retterverhalten, Co-Abhängigkeit, Machtbedürfnis oder Angst vor Verlassenwerden) unbewusst mitschwingen.

 

Selbstreflexion ist hier essenziell. Der ehrliche innere Dialog könnte lauten:

  • Habe ich wirklich Verbindung gesucht – oder Kontrolle?
  • Habe ich auf die Bedürfnisse des anderen gehört – oder meine eigenen übergeordnet?
  • War meine Handlung frei von Angst, Schuld oder Druck – oder getrieben von einem unbewussten Automatismus?

 

Karma: Intention ist alles

In der buddhistischen Ethik ist nicht allein die Handlung selbst entscheidend, sondern die dahinterliegende Intention. Karma entsteht nicht primär durch das, was wir tun. Sondern durch das, warum wir es tun.

Wenn ich laut werde, weil ich dich schützen will – entsteht ein anderes Feld, als wenn ich laut werde, weil ich dich kontrollieren oder kleinmachen will. Wenn ich Nähe suche, um Verbundenheit zu stärken – hat das eine andere Wirkung, als wenn ich Nähe erzwinge, um mein eigenes Sicherheitsgefühl zu stabilisieren.

 

Karmisch betrachtet wirkt die Intention wie ein Samen: Sie legt fest, welche Art von Frucht eine Handlung tragen wird – nicht unbedingt sofort, aber auf lange Sicht. Selbst eine äußerlich „gute“ Tat kann destruktive Wirkungen haben, wenn sie aus Angst, Geltungsbedürfnis oder Trotz geschieht. Und umgekehrt kann eine nach außen unangenehme Handlung (z. B. ein klares Nein, eine Konfrontation, ein körperliches Eingreifen) heilend wirken, wenn sie aus Mitgefühl, Klarheit und Wahrhaftigkeit geboren wurde.

 

Wirkliche Gewaltfreiheit schließt auch sich selbst nicht aus. Sie lädt uns ein, mit radikaler Ehrlichkeit auf unsere Absicht zu blicken – nicht zur Selbstverurteilung, sondern zur Reifung.

 

Fazit: Gewaltfreiheit beginnt innen – und weitet sich aus

Gewaltfreie Kommunikation ist kein Regelwerk. Kein Dogma. Keine Technik. Sie ist eine innere Haltung, die sagt: Ich will mit dir in Beziehung bleiben – auch wenn’s schwierig wird.

 

Und manchmal heißt das: laut sein, klar sein, körperlich präsent sein. Nicht, um dich zu kontrollieren. Sondern um dich zu erreichen. Und manchmal heißt es auch: innehalten, nichts tun, aushalten – weil meine Impulse nicht aus Verbindung, sondern aus Angst kommen.

 

Gewaltfreiheit ist kein „So tun als ob“. Sie ist ein ständiges inneres Lauschen: Bin ich gerade bei mir? Und bin ich bei dir?

 

 

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