„Wer ein Warum zum Leben hat, erträgt fast jedes Wie.“
– Friedrich Nietzsche
Es heißt oft: „Für alles gibt es einen guten Grund.“ Ein Satz, der trösten will. Der erklären möchte. Der Zusammenhänge andeutet, wo das Leben nur Fragmente hinterlässt. Ein Satz, an dem ich mich in letzter Zeit reibe.
Ich glaube an das Gute im Menschen. Ich bin überzeugt von der Wirksamkeit der Gewaltfreien Kommunikation. Ich glaube daran, dass hinter jedem Handeln ein Bedürfnis steht – ein Ruf nach Verbindung, nach Sicherheit, nach Sinn. Aber ich glaube auch an das Recht, nicht alles verstehen zu müssen. Ich glaube an die Würde des Schmerzes, an die Tiefe des Nicht-Wissens – und an die Heiligkeit mancher Fragen, die keine Antworten brauchen, sondern Raum.
Wenn (für mich) die Gründe fehlen
Mira und Jonas. Zwei (mir sehr nahestehende) Pflegekinder, die bereits viel erlebt haben. Die Trennungen kannten, Unsicherheit, den Verlust von Bindung. Und die doch – oder gerade deshalb – in ihrem neuen Zuhause aufblühten. Geborgenheit fanden. Vertrauen wuchsen ließen. Ein Alltag mit Wärme, Struktur und Zuwendung – sicher kein Ideal, aber dennoch eine echte Alternative zum Ankommen.
Und dann: der nächste Bruch. Von einem Tag auf den anderen mussten beide Kinder dieses Zuhause wieder verlassen. Übergangslösung. Ein kaltes Wort für ein Gefühl, das kaum beschreibbar ist: das erneute Verlieren von Verlässlichkeit. Das erneute Sich-nicht-festhalten-können. Ein weiterer Bindungsabbruch.
Ich bin mit Miras Pflegemutter befreundet. Jetzt gerade in diesem Moment ist sie eine Mutter ohne Kind an der Hand – sie ist Mutter im Herzen. Sie hat Mira nicht geboren, aber sie liebt sie und möchte für sie sorgen. Vollständig. Mit all der Verantwortung, der Zärtlichkeit, der Präsenz, die Muttersein bedeutet. Und nun trägt sie diesen Verlust. Still, erschöpft, und doch aufrecht in ihrer Liebe.
„Es ist schwer, das Licht zu sehen, wenn man im Dunkeln steht.“
– Khalil Gibran
Ich habe Kontakt zu Jonas. Und ja – ich sehe, wie er rebelliert. Natürlich rebelliert er. Wie soll ein Kind auch verstehen, was für uns Erwachsene schon kaum fassbar ist? Ich versuche, ihm mit Empathie zu begegnen. Ihn nicht zu korrigieren, nicht zu „erziehen“, sondern zu halten in seinem Aufruhr. Aber auch in mir tobt es. Ich suche nach dem berühmten guten Grund – und finde nichts als Schweigen.
Erschöpfung in der Haltung
Ich bin müde. Müde vom Suchen nach den guten Gründen. Müde davon, mir immer wieder zu sagen, dass es doch bestimmt eine Erklärung gibt, die alles in ein verständliches Licht rückt. Ich will nicht zynisch werden. Aber ich möchte auch ehrlich sein. Und manchmal bedeutet das: zuzugeben, dass ich nicht mehr kann.
Denn die Haltung der Gewaltfreien Kommunikation – so liebevoll und menschlich sie ist – fordert auch etwas: Sie lädt uns ein, hinter jedes Verhalten zu blicken, das Menschsein im anderen zu sehen. Aber manchmal gelingt es mir nicht. Dann prallt das Leben mit aller Wucht in mein Herz – und ich fühle nur Überforderung. Ohnmacht. Manchmal sogar Wut. Und das ist auch wahr.
„Empathie bedeutet nicht, alles zu verstehen. Sie bedeutet, im Nichtverstehen dazubleiben.“
– Unbekannt
Noch mehr unbegreifliches Leid
Es hört nicht auf bei Mira und Jonas.
Noah – dieser kluge, sanfte Junge mit dem hellen Blick – ist vor wenigen Wochen gestorben. Nach kurzer, schwerer Krankheit. Kaum jemand hatte Zeit, sich zu verabschieden.
Elias – so lebendig, so voller Ideen – ist ebenfalls gegangen. Einfach so. Plötzlich. Ohne Vorwarnung.
Tom – ein Freund, ein aufrichtiger Mensch – wurde auf offener Straße brutal zusammengeschlagen. Kein ersichtlicher Grund. Kein Zusammenhang. Nur Gewalt.
Und dann war da Ben. Junger Vater. Zwei kleine Kinder, eine Partnerin, ein Leben voller Alltagsfreude und Zukunftspläne. Die Diagnose kam schnell. Die Krankheit noch schneller. Und plötzlich war da nicht mehr das gemeinsame Frühstück, das Chaos der Windelzeit, die Hoffnung auf ein Familienabenteuer in Italien im Sommer. Schnell noch die Nothochzeit und plötzlich war da nur noch Stille. Ben starb. Zu früh. Zu jung. Seine Frau – so stark, wie nur Menschen sein können, die gar keine Wahl haben – manövriert nun das Familienschiff allein und kollidiert (verständlicherweise) an allen Ecken und Enden. Sie trägt die Kinder. Trägt den Schmerz. Und manchmal auch einfach nur den nächsten Tag.
Ich denke an all diese Geschichten. Und frage mich: Geht es hier auch um gute Gründe?
„Nicht alle Fragen verlangen nach einer Antwort. Manche wollen einfach nur gehört werden.“
– Andrea Schwarz
Ist das alles wirklich Teil eines größeren Plans? Oder ist das Leben manchmal einfach nur wild, ungerecht und unverständlich? Ich versuche, in größere Zusammenhänge zu blicken. In karmische Prinzipien. In Seelenverträge. Vielleicht hat Noah sich diesen Weg ausgesucht, bevor er hierherkam. Vielleicht war Elias’ Seele „fertig“ mit dieser Inkarnation. Vielleicht trägt Ben nun Licht an einen anderen Ort. Vielleicht hat Tom durch diesen Übergriff eine Kraft in sich entdeckt, die sonst verborgen geblieben wäre. Vielleicht. Vielleicht. Vielleicht.
Vielleicht auch nicht - denn das sind Gedanken, die nur dann tragen, wenn sie nicht ausweichen. Wenn sie nicht erklären wollen, um zu vermeiden. Sondern wenn sie zärtlich berühren dürfen, was unendlich weh tut.
Verbindung trotz Grenzen
Ich merke: Ich schwanke. Zwischen Haltung und Hilflosigkeit. Zwischen Vertrauen und Trotz. Zwischen Spiritualität und tiefer Erdung. Häufig erlebe ich die Prinzipien der Gewaltfreien Kommunikation als so unsagbar dienlich – weil sie mir Wege zeigen, Brücken zu bauen, wo Gräben sind. Und dann wieder scheitere ich an meinem eigenen Anspruch, vermeintlich alles zu verstehen, alles zu halten, immer offen zu bleiben.
Und ja, natürlich schwingen da auch eigene Themen mit. Ich bin selbst Pflegemutter. Ich bemühe mich, den Alltag mit einem besonderen Kind bestmöglich zu gestalten – jeden Tag aufs Neue. Und fast ebenso oft stoße ich an meine Grenzen. Nicht, weil es an Liebe fehlt, sondern weil meine Ansprüche an mich selbst manchmal so hoch sind, dass sie mich zu erdrücken drohen. Weil ich gerne kraftvoll wäre – und mich doch oft so verletzlich fühle.
Und ja – ich bin auch früh Halbwaise geworden. Ein Teil meines Herzens weiß seit Kindertagen, wie sich Verlust anfühlt. Wie sich ein Leben anfühlt, das vorher und nachher kennt. Vielleicht bin ich deshalb so empfänglich für die feinen und tiefen Risse in anderen Biografien. Vielleicht ist das mein Filter. Mein Schmerz. Mein Mitgefühl.
Ich kann nicht alles verstehen. Ich will das manchmal auch gar nicht. Und vielleicht ist genau das ein guter Grund, mitfühlend mit mir selbst zu sein.
„Der Mensch ist nicht dazu geschaffen, alles zu begreifen – aber vielleicht dazu, nicht wegzusehen.“
– Rainer Maria Rilke (frei interpretiert)
Auch das ist GFK: In Verbindung sein – mit den eigenen Grenzen. Mit der Müdigkeit. Mit der Überforderung. Und mit der Entscheidung, trotzdem nicht zuzumachen.
Ein stilles Ende
Heute am Gründonnerstag 2025 habe ich keine Auflösung. Kein Fazit. Kein „Und trotzdem war alles gut“. Nur ein stilles Innehalten. Und vielleicht den vorsichtigen Gedanken: Vielleicht müssen wir nicht alles verstehen. Vielleicht reicht es, da zu sein. Zuzuhören. Mitzutragen. Zu fühlen. Und manchmal einfach zu weinen, wenn das Herz schwer ist.
Vielleicht ist das die ehrlichste Form von Liebe: Anwesenheit ohne Erklärung, die sich Schritt für Schritt einer offenherzigen Präsenz nähert so weit es eben gerade möglich ist.
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Hinweis: Aus Respekt gegenüber den betroffenen Personen wurden alle Namen in diesem Beitrag geändert.
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