Inklusive Seminare: Wie Trainer*innen mit neurodiversen Menschen arbeiten könn(t)en und warum es alle bereichert

1. Einführung:

In einer zunehmend vielfältigen und inklusiven Gesellschaft ist es von entscheidender Bedeutung, Lernräume zu schaffen, die für alle Menschen zugänglich sind – unabhängig von ihren neurologischen Unterschieden. Neurodiversität beschreibt die natürliche Variation der menschlichen Gehirnstruktur und -funktion. Menschen, die neurodivers sind, haben unterschiedliche Wahrnehmungen, Kommunikationsweisen und Lernstile. Sie erleben und interpretieren die Welt auf ihre ganz eigene Weise – sei es durch Autismus, ADHS, Dyslexie oder andere neurologische Unterschiede.

 

Für Seminaranbieterinnen bedeutet dies, dass sie ihre Angebote so gestalten sollten, dass sie diese Unterschiede berücksichtigen. Der Paradigmenwechsel hin zu mehr Inklusion und Vielfalt stellt eine Chance dar, nicht nur neurodiverse Menschen zu unterstützen, sondern auch den gesamten Lernprozess zu bereichern. Ein solches Seminarumfeld kommt nicht nur neurodiversen Teilnehmerinnen zugute, sondern verbessert das Lernen und das gemeinsame Erleben für alle.

 

Im Kontext der Gewaltfreien Kommunikation (GFK) stellt sich die Frage, was mit „neurodiversen Bedürfnissen“ gemeint ist. Obwohl die GFK davon ausgeht, dass die Bedürfnisse aller Menschen universell sind – das heißt, sie basieren auf grundlegenden, menschlichen Wünschen wie Wertschätzung, Autonomie und Verbindung – bedeutet das nicht, dass die Art und Weise, wie diese Bedürfnisse wahrgenommen oder ausgedrückt werden, immer gleich ist. Neurodiverse Menschen haben oftmals besondere Anforderungen an ihre Umgebung, um ihre Bedürfnisse zu erfüllen, etwa durch eine klare Struktur, weniger sensorische Reize oder eine spezifische Art der Kommunikation.

 

 

2. (Theoretische) Beispiele aus der Praxis:

Stellen wir uns vor, Max, ein 34-jähriger Teilnehmer, meldet sich zu einem Seminar zur Gewaltfreien Kommunikation (GFK) an. Max ist Autist und hat Schwierigkeiten mit sozialen Interaktionen, vor allem, wenn es um nonverbale Kommunikation oder unerwartete Veränderungen im Ablauf geht. Er braucht klare Struktur und Vorhersehbarkeit, um sich in einem Seminar sicher und fokussiert zu fühlen.

 

Gefühle und Bedürfnisse von Max:
Zu Beginn des Seminars ist Max unsicher. Die Einführung ist recht vage, und es gibt keine klare Agenda, die ihn durch den Tag führt. Die Trainerin spricht oft metaphorisch, was Max verwirrt, da er direkte, klare Aussagen bevorzugt. Während der ersten Gruppenübung fällt es ihm schwer, sich in die Diskussion einzubringen, da er sich nicht sicher ist, wie er die Gedanken der anderen richtig interpretieren soll. Es wird viel auf nonverbale Kommunikation gesetzt, doch Max fühlt sich überfordert, weil er keine klaren Hinweise bekommt, ob er sich jetzt einbringen soll oder nicht.

 

Die spontane Struktur des Seminars, die vielen ungeplanten Gespräche und der ständige Wechsel von Themen erzeugen bei Max Stress und Unruhe. Er hat Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren, und fühlt sich ausgeschlossen, da er in der Gruppe nicht den gleichen Zugang zu den Informationen hat wie die anderen. Die Pausen sind unregelmäßig und es gibt keine Möglichkeit, sich zu bewegen oder in einem ruhigeren Raum durchzuatmen. Für Max dienlich wären ein klar strukturierter Ablauf und ein ruhiger, weniger stimulierenden Raum. Er verlässt das Seminar mit einem Gefühl der Frustration und Überforderung. Seine Teilnahme hat ihm wenig gebracht, da er nicht die Unterstützung bekommen hat, die er braucht, um die Inhalte aufzunehmen und sich sicher einzubringen.

 

Warum geht es ihm so?
In vielen herkömmlichen Seminaren fehlt es an der notwendigen Rücksichtnahme auf die unterschiedlichen Bedürfnisse neurodiverser Menschen. Der ständige Wechsel zwischen Diskussionen, die nicht strukturiert sind, die spontane Begleitung von Prozessen und Anliegen sowie die Verwendung von metaphorischer Sprache, die nicht direkt und verständlich ist, führen zu Unsicherheiten und Stress. Menschen wie Max, die klare Strukturen und visuelle Unterstützung brauchen, fühlen sich schnell überfordert und ausgeschlossen. Die fehlenden Pausen und das Fehlen eines ruhigen Rückzugsortes verstärken dieses Gefühl der Überforderung und reduzieren die Möglichkeit, sich aktiv in den Lernprozess einzubringen.

 

Ein weiteres Beispiel – Annas Perspektive:

Im Gegensatz zu Max hat Anna, eine 49-jährige Teilnehmerin, die sich ebenfalls für ein Seminar zur Gewaltfreien Kommunikation angemeldet hat, ganz andere Herausforderungen. Anna ist mit ADHS diagnostiziert und hat Schwierigkeiten, ihre Aufmerksamkeit auf eine Aufgabe zu fokussieren, besonders wenn viele verschiedene Impulse gleichzeitig auf sie einströmen. Sie hat einen sehr hohen Bewegungsdrang und neigt dazu, ihre Gedanken schnell zu formulieren, was in Diskussionen manchmal als unaufmerksam oder störend wahrgenommen wird.

 

Gefühle und Bedürfnisse von Anna:
Zu Beginn des Seminars fühlt Anna sich überwältigt von der Fülle an Informationen und den langen Vorträgen, die kaum Pausen oder Gelegenheiten zur Bewegung bieten. Ihr fällt es schwer, ruhig zu sitzen und den Ausführungen des Trainers zu folgen, da sie innerlich sehr unruhig ist. Die vielen Details, die ohne visuelle Hilfsmittel erklärt werden, verschwinden schnell aus ihrem Gedächtnis. Ihre Gedanken springen ständig von einem Thema zum anderen, was sie in den Pausen verunsichert – sie hat das Gefühl, keine Kontrolle über ihre Aufmerksamkeit zu haben. Während einer Gruppenübung fühlt Anna sich oft als die „Schnellrednerin“, die kaum tiefer in den Dialog mit anderen eintaucht, weil ihre Gedanken schneller voranschreiten als die der anderen Teilnehmer*innen.

 

Ihr Bedürfnis nach Bewegung und der Möglichkeit, zwischendurch „abzuschalten“, wird nicht ausreichend berücksichtigt, was ihre Unruhe verstärkt. Anna hätte es hilfreich gefunden, wenn der Trainer klarere Strukturen und kürzere, aktivere Phasen integriert hätte, die mehr Raum für Bewegung und spontane Gedankenaustausch geboten hätten. So hätte sie ihre Bedürfnisse nach Fokussierung und Ausdruck besser erfüllen können.

 

Warum geht es Anna so?
In einem Seminar ohne die Möglichkeit, sich aktiv zu bewegen oder die Informationen in kleineren, überschaubaren Portionen zu erhalten, fühlt sich Anna schnell überfordert. Ihre ADHS-bedingten Bedürfnisse nach Bewegung und und der Wunsch nach schnellen, klaren Informationen werden nicht ausreichend berücksichtigt. Die strikte Sitzordnung und die langen, passiven Phasen erhöhen ihre Frustration und lassen sie das Gefühl entwickeln, nicht in das Seminarumfeld zu passen.

 

 

3. Warum es alle betrifft:

Die Berücksichtigung neurodiverser Bedürfnisse in einem Seminar kommt nicht nur den neurodiversen Teilnehmerinnen zugute, sondern bereichert das gesamte Lernumfeld. Klare Strukturen und visuelle Hilfsmittel helfen allen Teilnehmerinnen, den Lernstoff besser zu verstehen. Eine offene, empathische Kommunikationsweise fördert das Vertrauen und die Bereitschaft, sich aktiv einzubringen – egal, ob jemand neurotypisch oder neurodivers ist. Ein Seminar, das auf die Bedürfnisse einer vielfältigen Gruppe eingeht, schafft ein Umfeld, in dem sich alle sicher und unterstützt fühlen. So wird das Lernen für jeden Einzelnen effektiver, inklusiver und bereichernder.

 

 

4. Konkrete Empfehlungen für Trainer*innen:

  • Verständnis und Sensibilisierung aufbauen:
    Trainer*innen sollten sich mit den verschiedenen Formen der Neurodivergenz vertraut machen und ein grundlegendes Verständnis dafür entwickeln, wie diese Unterschiede das Lernen und die Kommunikation beeinflussen können. Fort- und Weiterbildungen zur Neurodiversität können hierbei sehr hilfreich sein.

  • Vielfältige Lernmethoden und -formate anbieten:
    Um auf unterschiedliche Bedürfnisse einzugehen, sollten Trainer*innen verschiedene Lehrmethoden kombinieren. Dies umfasst visuelle Hilfsmittel wie Diagramme, Mindmaps oder Visualisierungen, klare und präzise Anweisungen sowie unterschiedliche Arbeitsformate (z.B. Einzelarbeit, Gruppenarbeit, Diskussionen). Flexibilität im Ablauf und die Möglichkeit, Aufgaben anzupassen, helfen allen Teilnehmenden, sich einzubringen.

  • Klare Strukturen und regelmäßige Pausen:
    Ein klar strukturierter Ablauf und die regelmäßige Ansage von Pausen geben den Teilnehmer*innen Orientierung und Sicherheit. Für neurodiverse Menschen, insbesondere solche mit ADHS oder Autismus, ist dies besonders wichtig, um die Konzentration zu fördern und Überforderung zu vermeiden.

  • Empathie und Geduld:
    Ein empathisches und geduldiges Umfeld ist entscheidend. Trainerinnen sollten darauf achten, auf alle Teilnehmerinnen mit Verständnis einzugehen und Raum für individuelle Bedürfnisse zu schaffen. Die Förderung einer offenen Kommunikationskultur, in der jeder sich gehört fühlt, ist ebenso wichtig.

 

5. Der Paradigmenwechsel – Mehr als ein Seminar:

Der Paradigmenwechsel, der in einem Seminar umgesetzt wird, hat weitreichende Auswirkungen über den Seminarraum hinaus. Wenn Trainer*innen eine inklusive und empathische Haltung einnehmen, tragen sie nicht nur zur Teilhabe neurodiverser Menschen bei, sondern auch zur Förderung einer respektvolleren und vielfältigeren Gesellschaft. Diese Haltung kann über das Seminar hinausgehen und dazu beitragen, dass auch in anderen Bereichen des Lebens – wie im Arbeitsumfeld oder in sozialen Begegnungen – mehr Verständnis für neurodiverse Menschen entsteht.

 

Darüber hinaus können Teilnehmer*innen, die in einem inklusiven Umfeld lernen, die Erfahrungen und Prinzipien, die sie dort gemacht haben, in ihr eigenes Leben integrieren. Sie sind in der Lage, empathischer und inklusiver auf neurodiverse Menschen zuzugehen, was die Verbindung zwischen ihnen und der breiteren Gesellschaft nachhaltig stärkt. Dies fördert nicht nur ein besseres Miteinander, sondern hilft auch dabei, die Gesellschaft als Ganzes inklusiver und offener zu gestalten.

 

 

6. Schlussfolgerung:

Die Berücksichtigung neurodiverser Bedürfnisse in Seminaren ist eine Win-win-Situation – nicht nur für die neurodiversen Teilnehmerinnen, sondern für alle. Es ist ein Schritt in Richtung einer inklusiven Gesellschaft, in der jeder Mensch, unabhängig von seinen neurologischen Unterschieden, die Möglichkeit hat, sich einzubringen und sein Potenzial zu entfalten. Wenn Trainerinnen diese Prinzipien in ihre Praxis integrieren, können sie eine nachhaltige Veränderung bewirken – sowohl in ihren Seminaren als auch in der breiteren Gesellschaft.

 

 

Literaturhinweise und vertiefende Quellen:

  • Armstrong, T. (2010). Neurodiversity: Discovering the Extraordinary Gifts of Autism, ADHD, Dyslexia, and Other Brain Differences. Da Capo Lifelong Books.
  • Hacking, I. (2009). Neurodiversity: A Philosopher's Introduction. Columbia University Press.
  • Kaspar, M. (2021). Neurodiversität: Ein Leitfaden für mehr Inklusion und Gerechtigkeit. Springer.
  • Hill, E. L. (2004). Executive Dysfunction in ADHD and Other Developmental Disorders. Cambridge University Press.
  • GFK-Übersetzungsarbeit des CNVC (Center for Nonviolent Communication): Gewaltfreie Kommunikation – Eine Sprache des Lebens von Marshall B. Rosenberg, dt. Ausgabe 2006.
  • Mühlen, R. (2017). ADHS: Was Sie schon immer wissen wollten. Psychiatrie-Verlag.

 

Empathischer Hinweis:

Es fällt auf, dass das Logo für Neurodiversität und das Logo des CNVC (Center for Nonviolent Communication) auf den ersten Blick sehr ähnlich sind – beide beinhalten ein Symbol für die menschliche Verbindung. Was für ein kraftvolles Zeichen! Es erinnert uns daran, dass wir als Praktizierende der Gewaltfreien Kommunikation genau die Haltung verkörpern, die für den nötigen Paradigmenwechsel in der Gesellschaft erforderlich ist. Wenn nicht wir, die wir die Prinzipien der GFK im Herzen tragen, wer dann könnten die Pioniere für mehr Inklusion, Empathie und Verständnis sein? Gemeinsam können wir dazu beitragen, dass neurodiverse Menschen in allen Lebensbereichen eine echte Stimme finden – sei es in Seminaren, der Arbeitswelt oder im täglichen Miteinander.

 


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