"Also so etwas würde es bei mir ja nicht geben!" – die Worte der Mutter einer Klassenkameradin von Florian treffen mich plötzlich, wie aus dem Nichts. Sie sagt es mit einer Entrüstung, die ich zunächst kaum einordnen kann. Ihr Ton ist fest, fast anklagend, und doch verspüre ich in mir keine Reaktion von Ärger oder Verteidigung. Stattdessen breitet sich in mir eine tiefe Ruhe aus. Noch bevor ich reagieren kann, wiederholt sie: "Nein, so etwas würde es bei mir nicht geben! Ich würde einmal eine klare Ansage machen, und dann funktioniert das."
Was war geschehen? Mein Sohn (gerade 7 Jahre alt) war über eine Straße gerannt, ohne nach rechts und links zu schauen. Es war eine kleine Nebenstraße mit wenig Verkehr. Natürlich wäre es mir auch lieber gewesen, wenn er angehalten oder sich zumindest umgeschaut hätte, bevor er die Straße überquerte. Und dennoch spüre ich in diesem Moment etwas viel Wichtigeres in mir: eine entspannte Akzeptanz. Mein Sohn hat vermutlich nicht geschaut, weil er gerade in seiner eigenen Welt war, ganz woanders. Und während die andere Mutter sich empört, spüre ich, wie sehr ich meinen Sohn in dieser Situation sehen kann – wirklich sehen.
Ich fühle keine Notwendigkeit, ihn jetzt zu rügen oder ihm nachzulaufen. Denn was in mir lebendig ist, ist etwas anderes: eine tiefe Liebe und eine Freude darüber, dass er nicht immer "funktioniert", wie es die Welt von ihm erwartet. Natürlich, er hat noch kein ausgeprägtes Gefahrenbewusstsein. Und ja, ich wünsche mir, dass er irgendwann lernt, in solchen Momenten achtsamer zu sein. Aber ich wünsche mir auch, dass er die Freiheit behält, in seiner eigenen Art zu entdecken, zu fühlen und zu wachsen.
In mir steigt Dankbarkeit auf, dass ich diese Ruhe in mir habe. Ich muss nicht tief durchatmen, damit die Worte der anderen Mutter an mir abperlen. Ihr Ton und ihre Haltung, all das ist für mich ein Ausdruck ihrer eigenen Bedürfnisse – vielleicht nach Kontrolle, nach Sicherheit für ihr Kind. Und das ist in Ordnung. Doch ich wähle einen anderen Weg. Es geht mir nicht darum, dass mein Sohn sofort auf Knopfdruck das tut, was von ihm erwartet wird. Ich will, dass er lernt, in seinem eigenen Rhythmus, durch Erfahrungen, die ihn selbst berühren.
Natürlich hätte die Situation mit der Straße anders ausgehen können. Ich spüre das in mir, diese leise Sorge, die jede Mutter / jeder Vater kennt. Aber statt aus Angst zu handeln, entscheide ich mich für Vertrauen. Vertrauen in ihn, dass er lernen wird. Vertrauen in mich, dass ich ihm den Raum gebe, den er braucht, um sich selbst zu entdecken – und gleichzeitig zu verstehen, dass Achtsamkeit ihm und anderen Schutz bietet. Es geht nicht darum, dass er Regeln befolgt, sondern dass er lernt, sich selbst und die Welt um sich herum zu achten.
Später am Abend setze ich mich ruhig zu ihm und frage sanft: "Kannst du dich daran erinnern, wie du die Straße überquert hast, ohne nach rechts und links zu schauen?" Seine Antwort überrascht mich nicht: "Nein, das weiß ich nicht mehr." In diesem Moment wird mir noch einmal mehr bewusst, wie tief er in seiner eigenen Welt versunken war, so sehr, dass die äußere Realität für ihn schlicht verblasste. Anstatt ihn zu ermahnen, spüre ich den tiefen Wunsch, ihn wirklich zu verstehen. Was hat er in diesem Augenblick gefühlt? Was hat ihn bewegt? Was war in seiner inneren Welt lebendig?
Es geht mir nicht darum, ihm zu sagen: "Das war falsch." Vielmehr möchte ich ihm helfen, zu spüren, was Achtsamkeit bedeutet. Nicht als Regel, die man befolgen soll(te), sondern als etwas, das aus dem Herzen kommt – als etwas, das aus Liebe und Fürsorge für sich selbst und für andere wächst.
Vermutlich wird es noch einige Zeit dauern, bis er das versteht. Vielleicht wird es noch mehr solcher Situationen geben, bevor er lernt, mit Achtsamkeit auf die Welt zuzugehen. Aber das ist in Ordnung. Ich möchte ihm den Raum geben, den er braucht, um in seinem eigenen Tempo zu wachsen. Ganz im Sinne der Gewaltfreien Kommunikation geht es mir nicht um Gehorsam, sondern um Verbindung – zu sich selbst und zu anderen. Und genau das möchte ich meinem Sohn ermöglichen: dass er lernt, auf sich zu hören, in sich hinein zu spüren und aus diesem inneren Bewusstsein heraus zu handeln.
Das Leben verläuft nicht nach einem festen Plan, und auch das Aufwachsen meines Kindes wird nicht nach einem starren Muster erfolgen. Er ist keine Maschine, die auf Kommando funktioniert. Er ist ein einzigartiges Wesen, das seinen eigenen Weg gehen wird, mit all seinen Umwegen, Entdeckungen und Fehlern. Ich will nicht, dass er aus Angst vor Konsequenzen handelt, sondern aus einem tiefen inneren Verständnis. Dass er lernt, Achtsamkeit nicht als Bürde, sondern als Geschenk zu empfinden.
Und so nehme ich mir in diesem Moment vor, weiterhin den Mut zu haben, loszulassen. Nicht aus Gleichgültigkeit, sondern aus Vertrauen. Vertrauen in mein Kind, dass er die nötigen Erfahrungen machen wird, um zu wachsen. Vertrauen in mich, dass ich ihm dabei zur Seite stehen kann – nicht als strenge Lehrerin, sondern als liebevolle Begleiterin. Schritt für Schritt, in seinem eigenen Tempo, auf seine eigene Weise.
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