Oberflächlich betrachtet möchte ich gesehen und wahrgenommen werden so wie ich bin - mit all meinem Licht und auch mit all meinen Schattenseiten. Im Alltag nutze ich allerdings immer wieder Strategien, die verhindern, dass mein Umfeld mich voll und ganz sehen und annehmen kann weil ich mich meinem Umfeld gar nicht voll und ganz zeige. Das Bild was meine Mitmenschen also von mir haben, wird gestaltet von Aspekten, die ich bewusst oder auch unbewusst von mir preisgebe plus durch das, was diese Menschen selbst dazukreieren (aus ihrer Menschenkenntnis, ihrer Erfahrung, ihrer eigenen Bewusstseinsentwicklung).
Es gibt etliche Dinge, die ich mit gar keinem anderen Menschen teile oder die ich nur mit einigen wenigen Menschen teile. Was sind meine guten Gründe dafür? Ich bemühe mich darum, sinnloses und unnützes Gerede zu vermeiden. Je mehr ich mich mit Kommunikation beschäftige umso wesentlicher ist es für mich geworden, dass das was ich sage auch bedeutsam und zielgerichtet ist. Ich möchte nicht reden um des Mitredens Willen sondern wenn es Sinn macht, bedeutungsvoll ist, wenn mein Wortbeitrag Wert schafft oder anderen hilft. Das ist für mich zu einer Tugend geworden. Ich gebe anderen Menschen in Gesprächen viel Raum, höre empathisch zu, verzichte weitgehend auf Ratschläge und das Einbringen eigener Erfahrungen.
Lange Zeit bin ich mit dieser Strategie sehr gut gefahren. Ich war sehr fokussiert auf mein Gegenüber und auch meine Gesprächspartner fühlten sich sichtlich wohl. Doch vor einigen Tagen sorgte genau diese Strategie in zwei engen Verbindungen dafür, dass heftige Irritationen auftraten, die mich sehr überraschten und zum Nachdenken anregten.
In dieser tugendhaften Wohlfühl-Strategie in der ich anderen Menschen viel Raum gebe, da ist wenig Raum für mich und meine Themen. Und ja, das habe ich absichtlich so gewählt. Allerdings wird mir nun erst klar, dass ich mit dieser Strategie auch den liebsten Menschen in meinem Umfeld die Chance nehme, mich ganz und wahrhaftig zu sehen und anzunehmen. Wenn ich ganz bewusst wenig von mir zeige dann bleibt mehr Raum für das was mein Gegenüber selbst hinzukreiert (über mich). Möchte ich das? In jedem Fall ist klar: das bringt mich stets weiter weg von Authentizität denn was mein Gegenüber in mir sieht hat mehr mit ihm selbst zu tun als mit mir.
In einem Selbstversuch habe ich meine Komfortzone vorübergehend und in überschaubarem Maß verlassen und habe ausgewählten Mitmenschen Einblicke gewährt in mein Leben und in Themen, die ich sonst für mich behalte. Die Reaktionen meiner Gesprächspartner waren bunt gemischt: zum Teil gab es keine für mich spürbare Reaktion, zum Teil waren die Menschen erstaunt und haben nachgefragt und zum Teil machte sich Traurigkeit und Unbehagen breit weil die Offenbarungen erst zu Tage förderten, dass zwischen uns überhaupt derartige „Geheimnisse“ bestehen.
Wie ging es mir selbst damit? Ich war angespannt und nervös da ich mich auf ungewohntem Terrain bewegte. In ausnahmslos allen Fällen wurde ich mit Nähe, Respekt und einer neuen Form von Verbundenheit belohnt. Darüber hinaus begegnete mir ganz viel Toleranz, die mir Sicherheit und Geborgenheit schenkte. Nach den Gesprächen war ich jeweils sehr berührt, schon fast energetisiert, und ich fühlte mich sehr lebendig. Ich habe erlebt wie ich angenommen wurde - auch mit meinen selbst empfundenen Schattenseiten, auch mit meinen Gedanken, die beim Gegenüber unangenehme Gefühle hervorriefen.
Insgesamt also offenbar eine lohnenswerte Erfahrung? Ja und Nein. Es ist - wie so häufig - für mich eine Frage der Balance. Meine tugendhafte Wohlfühl-Strategie, sinnloses und unnützes Gerede zu vermeiden, hat sich bewährt und ich möchte sie nicht missen. Sie gehört zu meinem Repertoire und sie eröffnet mir Räume zum Gegenüber. Nichts desto trotz ist mir nun klar, dass es auch bedeutsam und zielgerichtet sein kann, sich zu zeigen. Je nach Kontext schafft mein Wortbeitrag Wert für die Verbindung zum Gegenüber und ich darf eigenmächtig entscheiden wem ich mich wann wie zeigen möchte. Was bleibt ist die Idee, dass je mehr ich proaktiv von mir zeige desto weniger Raum bleibt für das was mein Gegenüber selbst dazukreiert / dazukreieren muss, damit ich ihm ganz erscheine. Ist denn dieser freie Gestaltungsraum überhaupt nötig und sinnvoll oder können wir uns nicht gegenseitig einfach mit dem annehmen was sich zeigen will?
Vielleicht ist es auch nur eine Konstruktion meiner Wirklichkeit, dass es diesen Raum zwischen meinem Gegenüber und mir gibt, in dem Aspekte zu meinem Sein dazukreiert werden. Vielleicht unterstelle ich dies, weil ich selbst erlebe wie ich auf der Grundlage meiner Menschenkenntnis, meiner Erfahrungen und meiner eigenen Bewusstseinsentwicklung das Verhalten von Menschen interpretiere und Wirklichkeitskonstruktionen rund um sie herum erschaffe. Ich tue das aus guten Gründen. Ich möchte häufig ein vollständiges Bild meines Gegenübers haben. Aspekte, die man mir bewusst nicht zeigen möchte oder unbewusst nicht zeigen kann, kreiere ich selbst dazu.
Wie geht es mir mit dieser Erkenntnis? Ich bin ernüchtert, etwas traurig und ungeduldig. Ich bin auf dem Weg allerdings noch lange nicht am Ziel und das zeigt sich auch hier. Mein Wunsch wäre, die Präsenz des Gegenübers zu genießen und dankbar anzunehmen was sich zeigen will bzw. was dieser Mensch mit mir teilen möchte. Das Bild muss nicht vollständig sein. Und während ich diesen Gedanken so nachhänge stelle ich fest, dass es Menschen in meinem Umfeld gibt, mit denen mir dies sehr gut gelingt. Menschen, die mich inspirieren und faszinieren. Menschen über deren Verbindung ich so tiefe Dankbarkeit empfinde, dass ich das was ich geschenkt bekomme entspannt annehmen kann und sich keine weiteren Fragen stellen. Es handelt sich um Verbindungen, die geprägt sind von viel Leichtigkeit, Nähe und Autonomie.
Gibt es ein vorläufiges Fazit zum Sich-zeigen und Gesehen-werden? Alles darf sein und alles ist schon da d.h. auch, dass ich geduldig und gnädig mit mir selbst sein darf. Mich ganz bewusst zeigen kann ich viel besser wenn ich mich selbst besser kennenlerne. Und auch das ist ein Prozess der (zum Glück) nie endet denn ich verändere mich. Vor diesem Hintergrund möchte ich mich selbst bitten, mich selbst und mein Gegenüber jeden Tag neu zu sehen, zufrieden anzunehmen, was ich heute teilen möchte und was andere heute mit mir teilen wollen, ganz präsent zu bleiben, Interpretationen und sonstige „Lückenfüller“ einfach ziehen zu lassen wie Wolken am Himmel und mich in einer entspannten Wachheit zu üben. Mit einem tiefen Sinn für Absicht und Wahlfreiheit, mit Offenheit dem gegenüber was jetzt ist, mit Einfallsreichtum, Interdependenz, und einer Perspektive von Vergangenheit und Zukunft möchte ich durchs Leben gehen.
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